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Die neue Freiheit genießen – gar nicht so leicht

Clevere Marketingexperten haben die Gruppe der über Fünfzigjährigen bereits seit Jahren als kaufkräftige Zielgruppe definiert. Diese „Best Ager/innen“ von heute sind nicht mehr zu vergleichen mit den Großeltern vergangener Zeiten. Sie sind vital und gesund, das Ergebnis eines achtsam geführten Lebens mit gesunder Ernährung und regelmäßigem Sport.

Finanziell unabhängig genießen sie ausgedehnte Reisen. Sie verbringen ihren Tag beim Golf oder auf dem Tennisplatz und ihren Abend mit kultivierten Freunden in den besten Restaurants der Stadt.

Es gibt eine Fülle von Angeboten, die sich ausschließlich an die Generation 50+ richten. Dabei reicht das Spektrum von „Internet für Silver Ager“ bis zur „Dating App für Partnersuchende ab 50“.

Und nun ist es soweit, auch ich bin jetzt mit Mitte fünfzig aus dem Berufsleben ausgeschieden. Seit einer Woche bin auch ich eine unabhängige Best Agerin!

Mein Kalender ist nicht mehr mit Meetings und Besprechungen gefüllt. In der ersten Zeit wird das Telefon noch recht häufig klingeln, und ich erhalte sicher noch eine ganze Weile geschäftliche E-Mails. Aber ich habe keine beruflichen Terminverpflichtungen mehr.  Endlich Zeit, um mich dem dolce vita hinzugeben, das süße Leben liegt nun vor mir. Am Abend meines letzten Arbeitstages habe ich ein Glas Rotwein auf diesen neuen Lebensabschnitt getrunken und mir vorgestellt, was ich mit meiner freien Zeit alles anfangen könnte.

Ich habe viele Interessen, die ich aus Mangel an freier Zeit bisher nicht vertiefen konnte. Nun ist die erste Woche vorbei und ich erkenne mich selbst kaum wieder. Unentschlossen und unzufrieden muss ich aufpassen, meinem Umfeld nicht auf die Nerven zu fallen. Dabei hatte ich mich doch so sehr auf die neu gewonnene Freiheit gefreut und nun stelle ich fest, dass ich bisher nichts Positives damit angefangen habe. Im Gegenteil, ich kann mich einfach nicht entscheiden, was ich tun will. Die Welt steht mir offen, und ich sitze zu Hause und ärgere mich.

Es wird dringend Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.

Als erstes kramte ich meine Liste mit den Dingen, die ich mir für meinen Ruhestand vorgenommen hatte, hervor. Diese Sammlung von Ideen war in den letzten Jahren entstanden. Ich hatte jedes Mal, wenn ich Lust auf eine Aktivität hatte, die ich aus Zeitgründen in diesem Moment nicht ausüben konnte, diesen Wunsch auf einem Blatt Papier aufgeschrieben.

Jetzt nahm ich mir jede Notiz einzeln vor und schrieb dazu, aus welchem Grund ich bisher noch nicht mit der Realisierung begonnen hatte.

Schnell stellt sich heraus, dass meine Gründe in drei Kategorien fallen: unrealistische Träumerei, ein neu erwachtes Bewusstsein für die Probleme der Welt und, zu meinem Erschrecken, die Frage, ob sich der erdachte Neubeginn für mich noch lohnt.

Auf meiner Liste befanden sich Dinge wie der Kauf eines Pferdes. Als junges Mädchen hatte ich ein Pferd gehabt, und wir hatten recht erfolgreich an einigen Turnieren teilgenommen. Mit dem Beginn meiner Karriere hatte ich immer weniger Zeit und irgendwann musste ich schweren Herzens einsehen, dass ich den Bedürfnissen eines Pferdes einfach nicht mehr gerecht werden konnte. Ich trennte mich von meinem Pferd, aber offensichtlich war ich irgendwann in den letzten Jahren auf die Idee gekommen, wieder mit dem Reiten anzufangen, wenn ich eines Tages genug Zeit dafür haben würde.

Nun sitze ich an meinem Schreibtisch und frage mich, ob ich wirklich wieder reiten möchte und die Antwort lautet ganz klar: nein. Ein Pferd artgerecht zu halten erfordert enormen Zeitaufwand und ich bin nicht bereit, täglich mehrere Stunden im Stall zu verbringen. Die Verpflichtung ist zu groß für mich, ich will sie nicht eingehen. Also wird dieser Punkt als unrealistisch von meiner Ruhestandsliste gestrichen. Zack – erledigt!

Gleich weiter zum nächsten geplanten Vorhaben, meiner Leidenschaft für das Lesen. Da ich in Andalusien wohne, habe ich keine Buchhandlung in der Nähe, in der ich deutschsprachige Bücher bestellen kann. Früher habe ich mir die jeweiligen Neuerscheinungen  aus lokalen Buchhandlungen von meinen Geschäftsreisen mitgebracht. Jetzt könnte ich bei Amazon bestellen, aber ich will diese Datenkrake aus Prinzip nicht unterstützen. Also suche ich mir die Buchhandlung in der Stadt heraus, in der meine Tochter lebt und frage dort an, ob die Möglichkeit einer Lieferung nach Spanien besteht. Das kurze Telefonat ergibt, dass die Inhaberin bereit ist gegen Vorkasse zu liefern, also werde ich in den nächsten Tagen meine erste Bestellung aufgeben. Und wenn ich nur einmal im Monat bestelle, wird dies meine persönliche CO2-Bilanz nicht sprengen.

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